Was wäre Deutschland in der Flüchtlingskrise nur ohne Menschen wie Anneline Kleeberg? Die 79-Jährige ist immer auf Achse. Immer für Andere im Einsatz. Auf der nordfriesischen Halbinsel Nordstrand betreut und unterrichtet die ehemalige Sonderschullehrerin seit zwei Jahren ehrenamtlich knapp 50 Flüchtlinge. Für die überwiegend jungen Männer ist Kleeberg längst zur Ersatzmutter geworden. Die Afghanen auf Nordstrand nennen sie in ihrer Sprache nur „Mama Dschan“ – die liebe Mutter.
Egal, mit wem wir bei der Recherche vor dem ersten Treffen über Kleeberg sprachen, die Antwort war eindeutig: „DIE müsst ihr vorstellen!“ Als wir nachts bei Regen und Sturm das erste Mal auf Nordstrand landen, kommt ein blauer VW-Bus angerast. Mongolischer Bass dröhnt aus den Boxen. Eine Frau steigt aus, marschiert strahlend auf uns zu: „Moin-moin, ich bin Anneline. Willkommen auf Nordstrand!“ Obwohl wir zuvor nur mit ihr telefoniert haben, kommen wir diese Nacht in ihrem Gästezimmer unter. Dieses Vertrauen in den Menschen, so stellten wir in den folgenden Tagen fest, ist typisch für Anneline Kleeberg.
Fast ihr ganzes Leben lang hat sich die 79-Jährige für andere eingesetzt. Als ehemalige Vorsitzende des Roten Kreuzes in Nordstrand kümmerte sie sich um Tschernobyl-Opfer, in den 90er-Jahren um geflohene Araber und Kurden und während über zehn Jahren um Kinder aus Weißrussland. „Dort ist Anneline mittlerweile bekannter als Angela Merkel“, sagt uns eine Bekannte von ihr.
Kleebergs treuer Begleiter seit vielen Jahren: der blaue VW-Bus, mit dem sie bereits Tausende Kilometer durch die Welt gereist ist, zuletzt 2013 nach Island. Als wir sie besuchten, sammelte Kleeberg gerade afghanische Flüchtlinge mit ihrem Bus ein, um ihnen die Hamburger Hallig zu zeigen.
Anneline Kleeberg ist ein Beweis dafür, dass viele Helfer in der Flüchtlingskrise an ihre Belastungsgrenzen stoßen. Als wir sie besuchten, hätte die Seniorin eigentlich mit Tee im Bett liegen müssen. Sie hustete fürchterlich, ihre Stimme war angeschlagen, sie fühlte sich nicht gut. Doch Kleeberg wollte partout keine Pause machen: „Ich werde hier gebraucht. Meine Schwäche ist, dass ich nie Nein sagen kann“, erklärt sie uns.
Freunde und Bekannte erzählten, Kleeberg drohe sich oft zu viel Arbeit aufzuladen und dabei ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Mutet sich die Nordfriesin im Einsatz für Flüchtlinge zu viel zu? Übernimmt sie sich am Ende gar? Wir werden sie ein Jahr lang begleiten und nach Antworten suchen.
Flüchtlinge auf der Hallig Hooge
Etwa eine Million Flüchtlinge müssen in Deutschland untergebracht werden – auch die kleinsten Gemeinden machen mit. Rund um die Halbinsel Nordstrand, wo Anneline Kleeberg lebt, verteilen sich die nordfriesischen Halligen, kleine Inselchen mit wenigen Bewohnern. Die Hallig Hooge, mit einer Bevölkerung von 94 Menschen die zweitgrößte unter den Mikroinseln, hat nun der Aufnahme einer Flüchtlingsfamilie aus Afghanistan zugestimmt. Am 1.Dezember ist die sechsköpfige Familie Faizi mit dem Schiff auf Hooge angekommen. Vom terrorgeplagten Talibangebiet in die idyllische Inselweite – ein Kontrast, wie er grösser nicht sein könnte. „Wir gehen mit der Situation sehr vorsichtig um und geben den Neuankömmlingen erst einmal Zeit und Raum zur Eingewöhnung“, schreibt Erco Lars Jacobsen aus Hooge auf unsere Anfrage. Für die Aufnahme einer Flüchtlingsfamilie hatte sich der Hoogener Gemeinderat massiv ausgesprochen. Die Bewohner freuen sich über die Familie Fazizi: Die Schule zählt ab sofort sieben statt fünf Schüler und auch der Hoogener Kindergarten hat Zuwachs. Familienvater Miraig war in seiner Heimat Taxiunternehmer. In diesem Beruf weiterzuarbeiten, dürfte auf der Insel aber schwierig werden.