Die Ärztin

Dr. Renate Schüssler

Dr. Renate Schüssler bot ab Sommer 2015 Sprechstunden für Flüchtlinge in verschiedenen Gemeinschaftsunterkünften in Berlin an. Mittlerweile liegt der Fokus ihrer Artbeit auf der Kontrolle von Hygienestandards in Unterkünften und der Erkennung von Faktoren, die die Gesundheit gefährden. Sie setzt sich für die Gestaltung eines fördernden Alltags für die Kinder und Kontrolle der Betreuung ein.

26. April 2016, 13:38 h

„Ich merke, wie müde und dünnhäutig ich geworden bin“

Dr. Renate Schüssler berichtet in ihrer Kolumne über Erschöpfung und schwindende Kraftreserven.

 

Jetzt müssen schon viele Geflüchtete im sechsten Monat in den Turnhallen ohne jegliche Rückzugsmöglichkeit oder Intimität, ohne Perspektive, mit 150 Menschen in einem Raum schlafgestört leben. Die Stimmung ist bedrückt, oft depressiv, viele Bewohner verlieren Antrieb und Mut.

Auch bei den Kindern sind die Folgen dieser Lebensbedingungen spürbar. Bei ihnen führen sie vor allem zu Aggressionen, zu Konzentrationsstörungen und damit zunehmend auch zu Problemen in den Schulen.

Die für den Kinderschutz verantwortlichen Institutionen wären jetzt gefordert – mit Hilfe zur Gestaltung eines fördernden, erfüllten Alltags sowie Hilfe bei der Suche von Kita-Plätzen, Kontrolle der Kinderbetreuung bezüglich Qualität, Quantität und Qualifikation des Personals, Überprüfung, ob Kindern Raum und Material zur Verfügung steht, selbstbestimmt zu spielen, zu bauen, zu malen. Und das nicht nur ein/zwei Stunden am Tag – wenn sie überhaupt die Möglichkeit bekommen.

Dafür setze ich mich ein.

Sicher, es sorgen zum Glück nach wie vor Ehrenamtliche dafür, dass der öde Alltag der Kinder in den meisten Hallen durch gemeinsame Aktivitäten unterbrochen wird, die dann wie Leuchttürme in ihrem Leben stehen.

Wichtiger für die seelische und geistige Entwicklung sind aber die vielen Stunden des Alltags zwischen solchen Ereignissen.

In der Zwischenzeit habe ich alle Sprachmittler, mit denen ich in den chaotischen Zeiten der medizinischen Versorgung auf dem Gelände des LaGeSo zusammengearbeitet habe, verloren. Sie sind erschöpft und ausgelaugt. Selber oft mit Fluchterfahrung haben sie emotional die Hauptlast getragen. Alle Informationen haben uns Ärzte erst durch sie gefiltert erreicht. Dafür haben sie oft wenig Anerkennung erfahren.

Auch ich merke nach nun fast neun Monaten dieser Arbeit, wie die Kraftreserven schwinden, wie müde und wie dünnhäutig ich geworden bin.

In dieser Situation ruft mich in der letzten Woche eine junge Frau an, eine ehemalige Patientin meiner ehemaligen Praxis, deren Eltern aus Nordafrika stammen, um mir Geld zurückzugeben, das ich ihrer vor einigen Jahren verstorbenen Mutter geliehen hätte. Sie möchte, dass ihre Mutter im Jenseits rein und frei von Schulden ist.

Das muss mindestens zwanzig Jahre her sein, die Anruferin war damals noch ein kleines Kind. Wir können uns beide nicht an die genaueren Umstände oder die Summe erinnern. Ich habe nie mit einer Rückzahlung gerechnet und will es auch jetzt nicht.

Da sie auch trotz drei Kleinkindern versucht, Geflüchteten durch Begleitdienste zu unterstützen, einigen wir uns zum Ausgleich, dass sie mir telefonisch zur Sprachmittlung zur Verfügung steht.

Ich bin sehr berührt über diesen Anruf zu richtigen Zeit, der mir zeigt, dass nichts, was man tut, verloren geht und dass es sich lohnt unbeirrt weiter zu machen.