Von JESSICA GIELEN, JAKOB HANKE und DANICA BENSMAIL
„Herzlich Willkommen in Aachen”, strahlend steht Ibrahim Qalla (20) im Türrahmen und zeigt einladend in die Wohnung. Der Syrer ist sichtlich stolz, dass er uns sein neues Reich mit seinem Bruder Omar (21) zeigen kann.
Ohne seinen Bruder war Ibrahim einsam. Also zog er nach Aachen, in die westlichste Stadt Deutschlands. Und er zog in die Nähe der Bilal-Moschee, die noch eine wichtige Rolle spielen wird. Die Moschee ist sitz des Islamischen Zentrums Aachen, das laut Verfassungsschutz dem syrischen Zweig der Muslimbruderschaft nahesteht.
Aber von vorne: Ibrahim ist vor drei Jahren aus Syrien nach Deutschland geflohen. Von der im Südwesten liegenden Stadt Idlib, über ein Jahr hoffnungsvolles Warten in Griechenland nach Berlin. Wir lernen ihn 2015 kennen, fragen ihn, ob er bei unserem Projekt mitmachen möchte. Ein Jahr lang werden wir ihn begleiten, über Erfolge und Niederlagen in seinem neuen Leben in Deutschland berichten. Der Syrer ist ein Beispiel für gelungene Integration, könnte man meinen: Er geht zur Schule, lernt Deutsch. Sein großer Traum: Schauspieler werden. Doch Ibrahim wirkt zuweilen verloren ohne seinen Bruder. Als wir ihn im Winter 2015 zum ersten Mal interviewen, spricht er von seiner Einsamkeit im Heim: „Ich vermisse meine Familie.” Dabei schaut der schlaksige Junge auf den Boden, fährt sich durch seine schwarzen Locken. Alles kehrt sich zum Besseren, als sein Bruder Omar (21) im März nach Deutschland kommt. Als Omar ins über 600 Kilometer entfernte Aachen versetzt wird, will Ibrahim ihn nicht wieder hergeben. Er stellt Anträge, lässt sich beraten, setzt alle Behörden-Hebel in Bewegung, mit Erfolg: Seit April wohnt Ibrahim mit seinem Bruder zusammen in Aachen, der Kurstadt im Dreilaendereck zwischen Belgien und Holland. Die Menschen hier sind weltoffener als im Osten, sagen die Brüder. Omar wurde in Brandenburg auf offener Straße angespuckt, weil er Flüchtling ist. In Aachen begrüßen die Leute sie freundlich, sagt Omar. Hier guckt dich niemand schief an, nur weil du Ausländer bist.
Ein Facebook-Post macht uns stutzig
Eigentlich Grund genug ihn dort zu besuchen und zu schauen, wie es den beiden geht. Doch wir hatten ein weiteres Anliegen. Ein Foto auf Ibrahims Facebookseite machte uns stutzig. Am 1. Juli Postet er ein Bild von sich mit Issam al-Attar, dem alten Anführer der syrischen Muslimbruderschaft, der seit den Siebzigerjahren in Deutschland lebt. Ibrahim hat ihn in der Bilal-Moschee kennengelernt. Zu dem Bild schreibt er: „Das war die schönste Rede, die ich in meinem Leben gehört habe, Al-Hamdu lillah (Allah sei gepriesen). Und vielleicht passieren hiernach ja noch schöne Dinge, die Allah in diesem Leben zufrieden stimmen. Großmütiger Scheich Issam al-Attar, möge Allah dir ein langes Leben schenken. Und vielleicht sind diese Bilder Erinnerung und zugleich Beginn von etwas Neuem.”
Wo liegt die Grenze zwischen Gläubigkeit und Radikalisierung?
Wikipedia bezeichnet al-Attar als syrischen Islamist. Er war von 1957 bis 1975 formales Oberhaupt der Muslimbruderschaft in Syrien. Er lebt seit Ende der sechziger Jahre in Deutschland. Bis heute ist er für viele Syrer in Deutschland und darüber hinaus eine religiöse Instanz und wird als Scheich (geistiger Führer) verehrt.
Auch darüber wollen wir mit Ibrahim sprechen, an seinem großen Holztisch in der neuen Wohnung, bei einem gemeinsamen Mittagessen, dass die beiden Brüder für uns kochen. Die Wohnung ist einladend, sauber und wirkt groß. Das liegt auch daran, dass sie noch sehr spartanisch eingerichtet ist: Ein weites Wohnzimmer dient als Gemeinschaftsraum mit Bett, der große braune Esstisch mit sechs Stühlen steht in der Mitte, dahinter die moderne Eck-Küche. Die Fenster sind mit Decken zugehangen, weil sich die Brüder keine Stangen für die Vorhänge leisten können. „Noch zu teuer”, so Omar, der hier schläft. Ibrahim schläft im 20 Quadratmeter großen Schlafzimmer nebenan: ein Bett, ein kleiner Nachttisch und ein kleines Regal. Auf dem angrenzenden Balkon stehen ein Liegestuhl und ein weißer Tisch. Ibrahim und Omar kochen Hühnchen, Kichererbsen und knuspriges Fladenbrot mit Sesampaste und Gewürzen. „Fatteh” und „Dajaj bl feren”.
Wir wollen wissen: Was bedeutet al-Attar im Leben für Ibrahim? Ist er ein geistiges oder auch ein politisches Vorbild? Ist es jemand, für den Ibrahim beten würde, oder jemand nach dessen Überzeugungen er auch handeln würde?
„Wir gehen jeden Freitag in die Bilal Moschee hier in Aachen”, so Ibrahim.
Ibrahim ist streng gläubig, gläubiger als viele andere Flüchtlinge. Er redet ungern darüber, auch heute nicht. Aber er lebt seinen Glauben vor. Im Ramadan fastet er, isst und trinkt nichts bis nach Sonnuntergang. Sex vor der Ehe schließt er für sich aus, und erst recht für seine Freundin. Doch was bedeutet al-Attar für ihn? Kann es sein, dass Ibrahim in Kreise gezogen wird, in denen es gefährlich werden könnte?
Wir lenken das Gespräch auf den Muslimbruder. Wir wollen wissen, was er von ihm hält. Woher wisst ihr davon? fragt Ibrahim. Das heitere Gespräch am Mittagstisch wird stockernst. „Wir haben über Facebook erfahren, dass er eine Rede gehalten hat,“ erklären wir. Ibrahim lässt nicht locker, wirkt verdutzt: Woher kennt ihr al-Attar?
Bisher haben wir auf Deutsch und Englisch geredet, jetzt springt unser Dolmetscher ein und erklärt. Wir zeigen ihm den Post, den er auf seiner Seite geteilt hat. Ibrahim erklärt dem Dolmetscher er sei überrascht, dass wir den Mann kennen. Er ist immer noch angespannt, aber lächelt nun und winkt ab. „Ich fand die Rede inspirierend. Er sprach von uns Flüchtlingen, wie wir uns richtig integrieren sollen. Was er sonst macht, weiß ich gar nicht.” Das wollen wir ihm nicht abnehmen, schließlich geht er jeden Freitag in seine Moschee. Wir fragen Omar. Auch sein älterer Bruder will sich nicht auf das Gespräch einlassen. Es wird unangenehm am Tisch, wir schlagen vor, erst mal aufzuessen. Vielleicht kriegen wir beim anschließenden Tee etwas heraus.
Wir reden über das syrische Essen, über Erinnerungen an die Heimat. Die Eltern und Geschwister der beiden leben noch dort. Die Familie verkaufte ihre Grundstücke, um die Flucht zu finanzieren. Aber das Geld reichte nur für die beiden.
Ibrahim floh plötzlich und ohne Zeit für Vorbereitung. Eine Gruppe nahm ihn in Idlib gefangen, um Lösegeld von der Familie zu verlangen. Er konnte aus der Gefangenschaft fliehen, doch nun war er nicht mehr sicher. Er beschloss, in die Türkei zu gehen. Welche Gruppe nahm ihn Gefangen? Ibrahim sagt, er will nicht darüber reden. Doch sein Bruder sagt: Ibrahim wurde im Gefängnis gefoltert, deshalb ist er geflohen. Unser Dolmetscher berichtet uns im Anschluss von einem Streit zwischen beiden Brüdern. Ibrahim nimmt seinem Bruder den Ausrutscher übel. Die nächste halbe Stunde über redet er praktisch kein Wort.
Hat die Gewalt die beiden zum Glauben geführt?
Omar sagt, der Glaube habe ihnen geholfen, sei aber seit ihrer Kindheit teil von ihnen. Gewalt aber lehnen sie ab, sie sind schließlich selbst Opfer von Salafisten. Die nahmen Ibrahim gefangen, sagt er. Und al-Attar? „Ein alter Mann, der eine inspirierende Rede gehalten hat,“ fasst er zusammen.
Der Abschied in Aachen war herzlich. Wir sollten doch öfter vorbeikommen, sagen die Brüder. Wir versichern, dass das nicht der letzte Besuch gewesen sein wird. Denn das ist der Kern unserer Projekts: Entwicklungen beobachten und immer wieder den Dialog oder die Diskussion suchen. Wir werden uns also auch weiterhin mit Ibrahim und seinem Leben intensiv und kritisch auseinandersetzen.