In Tübingen ist Boris Palmer seit Jahren als Querdenker bekannt, der die Konfrontation sucht. Ende 2014 trug er öffetntlich einen Streit mit einem schwäbischen Gastwirt aus, der ihn anscheinend nicht bedienen wollte. Wochen später wurde Palmer auf einer Kundgebung mit einem Stein beworfen, nachdem er trotz voriger Ausladung der Veranstalter den Dialog mit den Demonstranten gesucht hatte. Auch in der Flüchtlingskrise eckt der 43-Jährige mit seinen Aussagen nun an – und wird dafür in der eigenen Partei massiv kritisiert.
Herr Palmer, Sie haben dem „Wir schaffen das“-Optimismus von Bundeskanzlerin Angela Merkel zuletzt so offen und massiv wie kaum ein anderer deutscher Politiker widersprochen. Warum?
Boris Palmer: Meine Äußerung war eine Reaktion auf die Nachricht, dass 10 000 Flüchtlinge pro Tag nach Deutschland kommen. Auf ein Jahr hoch gerechnet wären das rund drei Millionen Menschen. Moralisch stürzt mich das in ein Dilemma, aber ich meine, dass uns dieses Tempo überfordert. Der Beitrag war auch ein Hilferuf. Ich wusste, dass meine Formulierung Diskussionen hervorrufen würde. Aber als Oberbürgermeister musste ich zu dem Zeitpunkt ein Signal nach Berlin senden und mehr Unterstützung fordern – finanziell und organisatorisch. Kommunen und Helfer waren an vielen Orten an ihre Grenzen gestoßen.
Einerseits wurde Ihr Facebook-Beitrag tausendfach geteilt und geliked, andererseits mussten Sie von Ihrer Partei heftige Kritik einstecken. Wie schätzen Sie die Situation zwei Monate danach ein: Schaffen wir es?
Das weiß ich nicht. Klar ist aber, dass wir vieles verändern müssen, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Wir haben zwei Möglichkeiten: Entweder reduzieren wir die Zahl der täglich ankommenden Flüchtlinge, oder aber wir ändern die Art der Unterbringung und setzen auf Notunterkünfte statt Integration.
Notunterkünfte statt Integration? Das klingt als Konzept absurd.
Aber genau das machen wir aktuell. Wir bringen Hunderttausende Flüchtlinge in Massenunterkünften unter. Wir müssen uns fragen: Ist es das, was wir wollen? Millionen Menschen in Not bei uns in Massenunterkünften Schutz bieten? Oder setzen wir auf dauerhafte Integration einer begrenzten Anzahl von Flüchtlingen?
So wie ich Sie verstehe, plädieren sie für Letzteres: Eine dauerhafte Integration von einer begrenzten Anzahl von Flüchtlingen.
Ich bin dafür, nur so viele Menschen dauerhaft aufzunehmen, wie wir auch wirklich integrieren können. Nothilfe können wir in sehr viel größerem Umfang leisten, aber dann nur für eine begrenzte Zeit. Das ist der Unterschied zwischen Einwanderung und Asyl. Wer helfen will, muss zuerst die Situation in den Flüchtlingslagern im Nahen Osten verbessern. Dort sind noch immer die meisten Kinder. Es ist beschämend, dass die Nahrungsrationen in den Lagern gekürzt wurden, weil kein Geld da war.
Tübingen ist eigentlich heile Welt. Die Universitätsstadt hat eine der niedrigsten Jugendarbeitslosenquoten Europas, gilt als Heimat gut situierter „Öko-Spießer“. Inwieweit verändert die Krise die Stadt und das Leben in Tübingen?
Vor einigen Tagen war ich bei einer Schuleröffnung in Tübingen. 30 von 300 Schülern waren Flüchtlingskinder. Die Schulleitung hat bereits gesagt, dass damit die Grenze erreicht ist. Die größte Veränderung betrifft den Wohnungsmarkt. Wir müssen in Tübingen in sehr kurzer Zeit Wohnraum für 800 Menschen schaffen. Dafür habe ich auch Besitzer von leerstehenden Immobilien persönlich angeschrieben. Gleichzeitig haben wir bei uns eine lange Liste mit Bürgern, die auf eine Sozialwohnung warten. Diese Menschen fragen mich: „Für die Flüchtlinge macht ihr viel, aber was macht ihr für uns?“
Wie ist die Lage in den Tübinger Flüchtlingsheimen?
In den Wohngebieten funktioniert es bislang gut. In den Hallen und Notunterkünften weniger. Obwohl sie bislang noch nicht voll belegt sind, hat es bereits die ersten Schlägereien gegeben. Aber die würde es auch geben, wenn man 400 Schwaben in eine Halle sperrt. Ein Glück ist die Hilfsbereitschaft in Tübingen aber weiterhin sehr groß. Für manche Helfer haben wir nicht einmal Arbeit. Das ist ein riesiger gesellschaftlicher Fortschritt im Vergleich zu den 90er Jahren. Deutschland ist heute weltoffen und hilfsbereit.
Sie sprachen im Kontext der Flüchtlingskrise zuletzt von einem „Diskursverbot“. Wie ehrlich darf man in Deutschland überhaupt noch sein bei dem Thema?
Ehrlich darf man sein. Das Problem ist, dass vielfach versucht wurde, jede ablehnende Äußerung zu der Zahl der Flüchtlinge in die rechte Pegida-Ecke zu stellen. So erzeugt man einen großen gesellschaftlichen Druck, der manche Menschen in ihrer Meinungsäußerung hemmt und eine wirklich Debatte in der Mitte der Gesellschaft verhindert. Ich habe das Gefühl, dass sich das Problem aber langsam legt und wir anfangen, offener zu diskutieren.
Sie schreiben in einem Gastbeitrag für die FAZ: „Wir dürfen unsere Definition von Humanität nicht so absolut setzen, dass Europa daran zerbricht.“ Das klingt für mich erneut nach einer deutlichen Abkehr von Angela Merkels Willkommenskultur. Wie egoistisch dürfen und müssen wir in der Flüchtlingskrise sein?
Egoismus ist ein klares Kennzeichen von Realpolitik. Es gibt immer eigene Interessen und es wäre gut, wenn wir das in Deutschland anerkennen. Es bringt nichts, andere Länder zur Aufnahme von Flüchtlingen zu zwingen. Wir müssen verstehen, dass beispielweise Spanien mit einer Jugendarbeitslosigkeit von knapp 50 Prozent nicht bereit ist, hunderttausende junge Flüchtlinge aufzunehmen. Frankreich ist nach dem Terror in Paris und den Erfolgen des Front National ebenfalls in einer ganz anderen Lage als wir. Einige Deutsche wollen diese Haltung anderer Länder nicht akzeptieren. Wenn wir uns weiterhin als die moralischen Zuchtmeister aufführen, gefährden wir am Ende wirklich die Einheit Europas. Das dürfen wir nicht riskieren.
Die Ignoranz und Abschottung vieler europäischer Nachbarn also einfach akzeptieren? Ist das Ihre Lösung?
Nein, ich bin nur für einen pragmatischen Umgang. Im Moment nimmt Deutschland eine Pufferfunktion für alle anderen Staaten in Europa ein. Deshalb brauchen wir dringend einen europäischen Verteilungsmechanismus, der regelt, welches Land wie viele Menschen aufnimmt. Dabei müssen wir in Europa dann natürlich über eine Obergrenze diskutieren. Klar können wir Deutsche dann immer noch sagen, dass wir freiwillig mehr aufnehmen als wir müssten. Aber von anderen Ländern dürfen wir das nicht erwarten.
Warum sollte für alle europäischen Länder eine Obergrenze bei der Aufnahme von Flüchtlingen gelten, für Deutschland aber nicht?
Zum einen ist unser Grundgesetz beim Asylrecht einzigartig. Zum anderen ist im Kontext der Krise auch die Stimmung in Deutschland positiver als in anderen Teilen Europas. Und schließlich: Wir haben die Flüchtlinge schon, die meisten anderen Länder müssten sie erst noch zu sich holen.
Sie sprachen zuletzt immer wieder von „Belastungsgrenzen“, die Deutschland erreicht. Außen vor blieb dabei bislang immer, wo Sie diese Grenzen setzen.
Ich spreche mittlerweile lieber von Grenzen der Leistungsfähigkeit. Wir müssen in Deutschland ganz klar sagen, was wir bereit sind für Flüchtlinge zu tun und auf wie viel wir verzichten wollen. Wie viel Arbeitslosigkeit können und wollen wir hinnehmen? Welche Belastungen auf dem Wohnungsmarkt sind wir bereit zu tragen? Wie viel Geld aus den kommunalen Haushalten wollen wir für Flüchtlinge verwenden? Das kann ich aber nicht beantworten, dass müssen wir debattieren.
Angela Merkel wurde oft für ihre ausgerufene Willkommenskultur kritisiert. Es heißt, mit ihren Aussagen und Flüchtlings-Selfies habe Sie den Zustrom der Massen nach Deutschland erst hervorgerufen. Wie sehen Sie das?
Es ist ein Dilemma. Einerseits brauchen wir eine Willkommenskultur, damit Integration klappen kann. Sonst entstehen bei uns Banlieues wie in Frankreich. Andererseits dürfen wir es nicht übertreiben. Die Selfie-Bilder von Merkel landen auf den Handys im Nahen Osten und suggerieren, dass sich Deutschland freut, wenn noch mehr Flüchtlinge zu uns kommen. Das ist riskant.
Das Interview führte Ibrahim Naber.