Es ist neun Uhr morgens. Mein erster Blick gilt, wie so oft in diesen Tagen, meinem iPhone. Gottseidank keine Nachrichten über Schüsse, Tote, Bomben, Geiselnahmen. Wann gab es das in den vergangenen Tagen? Heute, so scheint es, startet der Tag in München mit Sonne, Ruhe, Frieden.
Dennoch, wir halten seit Tagen den Atem am. Sind gedanklich zusammengerückt. Haben zusammen getrauert, gehofft, geflucht.
Jeder von uns wird sich nach Nizza, Würzburg, München, Ansbach, Saint-Étienne-du-Rouvray die Frage gestellt haben: Wie soll das weitergehen? Beim Amoklauf in München war ich selbst vor Ort. Als Freitag am Münchner Hauptbahnhof eine Massenpanik ausbrach, rannten am frühen Abend mehr als tausend Menschen um ihr Leben. Ich auch. Während wir uns auf einen Hinterhof flüchteten, vernahmen wir in der Luft Geräusche, die wie Schüsse klangen.
In diesem Moment sah ich vor meinem geistigen Auge, wie Terroristen den Hauptbahnhof stürmten. Ich „wartete“ geradezu auf den Moment, in dem Schüsse fallen. Kugeln einschlagen.
Ja, diese Gedanken gingen mir durch den Kopf. Genauso wie ISIS, Terror, Ausländer. Keine gute Assoziationskette. Doch ich stand unter Schock, auch am nächsten Tag. Und ich habe viel nachgedacht.
Warum schreibe ich das? Nicht zuletzt wegen Leserkommentaren auf unserer Seite Schaffen wir das? („Rückschläge werden bei Euch kaum thematisiert”). Wegen persönlicher Gespräche in den vergangenen Tagen mit Familie, Freunden, Bekannten („Bald bricht ein Bürgerkrieg aus”, „Das spielt der AfD voll in die Karten” oder „Da haben wir uns ein schönes Ei ins Nest gelegt”).
Kann man den Menschen in diesen Tagen solche Gedanken absprechen? Ich glaube nicht. Die Menschen haben Angst. Und Ängste spiegeln sich auch in unserem Projekt wider. Dieses hatte nie zum Ziel, am Ende auf jeden Fall die Antwort zu bekommen: Ja, wir werden das schon schaffen! Es geht vielmehr um eine differenzierte Langzeitbetrachtung, um den Ist-Zustand, erklärt und bebildert mit den Einzelschicksalen von zehn Menschen, die von der Flüchtlingskrise betroffen sind.
Wir sind keine Politiker. Wir sind Journalisten, die sich ein großes Ziel vorgenommen haben: diese Menschen ein Jahr lang zu begleiten.
Selbstverständlich konfrontieren wir unsere Protagonisten mit den aktuellen Geschehnissen. Sind mit ihnen ständig im Dialog. Aber eines muss man bedenken: Ob Hamza Mahfood, Anneline Kleeberg, Maik Mackewitz oder Detlef Wagner – sie sind auch nur Menschen die, wie wir alle, Zeitung lesen, Nachrichten schauen. Die heulen und mit dem Kopf schütteln. Die fassungslos sind, Angst haben, die zweifeln oder mutig bleiben. Mal so, mal so. Die im Urlaub durchschnaufen. Vor allem aber: Die uns ihre Zeit schenken und kein Geld dafür bekommen.
Wir können nicht von ihnen verlangen, fünf Minuten nach einem Anschlag ein Statement abzugeben. Aber wir können jedem unserer Follower versprechen, dass wir die aktuellen Geschehnisse im Auge haben, journalistisch aufarbeiten und in unsere Berichterstattung mit einfließen lassen.
Eines ist mir persönlich wieder deutlich geworden in den vergangenen Tagen: Nichts ist gefährlicher als jeden bärtigen Ausländer, jeden fremden Rucksackträger unter Generalverdacht zu stellen. Ich nehme mich da nicht raus, ich habe es oben beschrieben.
Dieser Tage hat ein junger Mann im Fernsehen auf die Frage, was sich seit den Terroranschlägen verändert habe, so geantwortet: „Früher lag in der Gegend ein Rucksack rum, und man dachte, hey, den muss jemand vergessen haben. Heute denken wir an eine Bombe.“ Das muss aufhören.
Die Herkunftsorte der mörderischen Attentäter ist bekannt. Darunter waren auch Syrer. Wie unser „Optimist“ Hamza, die „junge Mutter“ Rana und „Schauspieler“ Ibrahim.
Sie aber flohen tatsächlich vor dem Krieg, vor Wahnsinnigen, vor Extremismus, statt die Zustände zu missbrauchen und Angst und Terror in unser Land zu bringen.
Kanzlerin Angela Merkel ergriff am Donnerstag das Wort und erneuerte ihre Botschaft von einst. „Ich bin heute wie damals davon überzeugt, dass wir es schaffen”, sagte Merkel in Berlin. „Wir haben im Übrigen in den letzten elf Monaten sehr, sehr viel geschafft.” Zu Beginn unseres 365-Tage-Projekts habe ich nun folgendes geschrieben: „Es reicht nicht zu sagen: ,Wir schaffen das’. Wir müssen den Flüchtlingen bei uns eine Chance geben.“ Jetzt, nach all dem Erlebten, möchte ich schreiben: Weiter nur „Wir schaffen das” zu sagen, ist unverantwortlich. Die Politik hat mehr denn je die Aufgabe, unsere Sicherheit zu garantieren und trotzdem interkulturellen Austausch zu ermöglichen. Integration voranzutreiben. Passend dazu sagte Merkel auch: „Wir tun alles Menschenmögliche, um die Sicherheit in unserem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat zu gewährleisten.“ Ich bin gespannt und wünsche mir nichts sehnlicher, als dass unsere Kanzlerin genau DAS SCHAFFT.
Wir investieren Milliarden in echte Großprojekte, schaffen es aber nicht eine Infrastruktur aufzubauen, mit der wir zu uns kommende Menschen zumindest so weit überprüfen können, dass sie keine Gefahr darstellen. Um so im Umkehrschluss nicht diejenigen verdächtigen zu müssen, die alles verloren haben und unsere Hilfe brauchen. Diesen Menschen müssen wir auch weiterhin eine Chance geben. Wie etwa den syrischen Flüchtlingen aus unserem Projekt. Sie wollen diese Chance in unserem Land nutzen. Die anderen Protagonisten von Schaffen wir das? – Anneline Kleeberg, Jessika Herrmann, Dr. Renate Schüssler, Sven Gempper, Maik Mackewitz, Detlef Wagner und Peter Geese – geben sie ihnen. Und wir werden darüber berichten.