Er ist der Rebell aus Tübingen. Boris Palmer fordert eine striktere Flüchtlingspolitik und einen bewachten EU-Zaun zur Sicherung der Außengrenzen. Von seiner Partei wird der Grünen-Politiker nach seinem SPIEGEL-Interview dafür massiv kritisiert. Im Gespräch mit Ibrahim Naber erklärt Palmer, warum er Angela Merkel widerspricht und und plädiert für eine striktere Asylpolitik.
Herr Palmer, Sie haben dem „Wir schaffen das“-Optimismus von Bundeskanzlerin Angela Merkel Ende 2015 so offen und massiv wie kaum ein anderer deutscher Politiker widersprochen. Warum?
Angela Merkel hat den Fehler Helmut Kohls wiederholt. Die Einheit war richtig wie die Hilfe für Flüchtlinge, aber das Versprechen blühender Landschaften war nicht richtig. Es war im Herbst erkennbar, dass die Flüchtlingszahlen so hoch schnellen, dass das Tempo langfristig nicht zu schaffen ist. Sie hätte von Beginn an sagen müssen, dass viele Flüchtlinge keine Hilfe für unseren Arbeitsmarkt sind, sondern Langzeitarbeitslose, für deren Qualifikation wir sehr viel Zeit investieren müssen, dass dies eine Krise ist, die uns viel Geld Kosten wird.
Die Silvesternacht von Köln hat die Stimmungslage massiv verändert. Oft hört man Vorwürfe, Flüchtlinge dürften sich alles erlauben. Wie soll der Staat mit straffälligen Asylbewerbern umgehen?
Gerade die Diskussion nach Köln zeigt doch, dass wir bei Straftaten offen ansprechen müssen, wer es war und woher die Täter kommen. Auch zum Schutz aller gesetzestreuen Flüchtlinge. Für jeden Verstoß muss es eine angemessene Strafe geben. Wer mehrmals das Recht bricht, hat sein Bleiberecht verwirkt, der muss gehen. Das sehe ich ganz wie Winfried Kretschmann.
In der Realität ist das schwierig. Kleinere Straftaten haben keine Auswirkungen auf den Asylanspruch in Deutschland.
Tatsächlich nutzt eine kleine Gruppe von Asylbewerbern eine Gesetzeslücke für Drogenhandel und Diebstähle aus. Sie wissen, dass aus den Vergehen für den Asylantrag nichts folgt. Und Geldstrafen greifen auch nicht. Bei uns in Tübingen haben Asylbewerber über Monate im Botanischen Garten mit Drogen gedealt. Nur mit vielen Polizisten, verdeckten Ermittlern und täglichen Kontrollen konnten wir die Leute vertreiben.
Angela Merkel hätte von Beginn an sagen müssen, dass viele Flüchtlinge keine Hilfe für unseren Arbeitsmarkt sind, sondern Langzeitarbeitslose.
- Boris Palmer, Oberbrügermeister von Tübingen
Sie schlagen eine „Einwanderungsampel“ für Flüchtlinge vor, die klar zwischen Asyl und Einwanderung trennt. Was steckt hinter der Idee?
Die Ampel ist ein einfach zu verstehendes Zeichen. Wer deutsch spricht, die Gesetze achtet und eine Arbeit findet, für den ist grün. Wer noch Lücken in der Sprache oder der Arbeitsqualifikation hat, für den ist gelb. Und wer nichts davon schafft, für den ist einfach rot. Somit wissen wir alle, woran wir sind und wer grün erreicht hat, bekommt eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis.
Klingt nach einem System, das deutlich mehr Forderungen an Zuwanderer stellt und Leistung stärker belohnen soll.
Ja, wir müssen den Flüchtlingen, die was schaffen wollen, Anreize bieten. Wir haben auf dem Arbeitsmarkt eine riesige Lücke, die Zuwanderer schließen könnten. Gleichzeitig muss klar sein: Wer sich als Flüchtling bei uns nicht integrieren will, der kann es auch lassen, hat dann aber auch keinen Anspruch auf Teilhabe an unserer Gesellschaft und sollte in die alte Heimat zurückkehren, wenn die Fluchtgründe entfallen sind.
Sie planen 40 verschiedenen in ganz Tübingen für die Flüchtlingsunterbringung ein und warnen vor der Entstehung von Ghettos. Wie kommen Sie darauf, dass sich bei uns Ghettos bilden könnten?
In Tübingen müssen wir bis 2017 rund 2000 Flüchtlinge unterbringen. Wenn die alle an einem Ort leben, dann ist das nichts anderes als ein Ghetto. Wir können es auch „Banlieue“ nennen, wie in Paris. Aber gerade das Beispiel Frankreich zeigt, dass wir das unbedingt verhindern müssen
Notfalls wollen Sie leerstehende Häuser beschlagnahmen, um Flüchtlinge unterzubringen. In Briefen haben sie rund 100 Besitzern ein Ultimatum gesetzt. Was passiert dann?
Eigentum verpflichtet. Wir haben in Tübingen einen Wohnungsnotstand und die Rechtslage sieht eine Beschlagnahme in Ausnahmesituationen vor. Der nächste Schritt ist eine Zweckentfremdungssatzung. Den Eigentümern drohen in diesem Fall saftige Bußgelder bis zu 50 000 Euro. Ich möchte nicht, dass es soweit kommt, habe aber bisher nur wenige Rückmeldungen auf unser Angebot zur Anmietung durch die Stadt erhalten.
Wer sich als Flüchtling bei uns nicht integrieren will, der kann es auch lassen, hat dann aber auch keinen Anspruch auf Teilhabe an unserer Gesellschaft und sollte in die alte Heimat zurückkehren, wenn die Fluchtgründe entfallen sind.
- Boris Palmer, Grünen-Politiker
Tübingen, auch bekannt als Deutschlands "grüne Hölle"
Sie beklagen, dass der Bund die Kommunen in der Flüchtlingskrise im Stich lässt. Sie fordern nicht nur deutlich mehr Geld aus Berlin, sondern auch Lockerungen der gesetzlichen Vorschriften. Was stört Sie am meisten?
Es ist die Summe aller Vorschriften, die einen wahnsinnig macht. Ein Beispiel dafür ist das Artenschutzrecht. Wir müssen jede Fläche einer Flüchtlingsunterkunft durchsuchen und schauen, ob sich da eine Eidechse oder ein Käfer versteckt. Das ist toll, wenn man Zeit dafür hat, aber die haben wir in der Flüchtlingskrise nicht. Der Gesetzgeber müsste uns zumindest einen Ermessensspielraum geben, will er aber nicht.
In Briefen haben Sie Bund und Länder auf die Probleme aufmerksam gemacht. Was für Reaktionen gab es aus Berlin?
Es hieß, man habe ja schon viel getan, man arbeite weiter an Lösungen. Die Fachbürokratien verteidigen ihre Errungenschaften zäh und für die hohe Politik, die das selbst nicht umsetzen muss, ist es schwer, das zu beurteilen. Der Problemdruck in den Kommunen ist oben noch nicht deutlich genug angekommen.
Der Parteienforscher Elmar Wiesendahl prophezeit für 2016 eine Eskalation der Flüchtlingskrise in Deutschland. Ab Frühling würden die Flüchtlingszahlen wieder massiv steigen, da wir es weiter nicht schaffen, unsere Außengrenzen zu schützen.
Wenn dieses Jahr tatsächlich 1,5 Millionen Menschen zu uns kommen, wie lange kalkuliert wurde, dann schaffen wir es nicht mehr. Ich sehe aber wieder Chancen, dass die Zahlen sinken, da mittlerweile alle europäischen Regierungen begreifen, dass wir es nur zusammen schaffen können. Dazu gehört natürlich, dass wir unsere Außengrenzen effektiv schützen.
Und was sagen Sie heute, im Februar 2016: Schaffen wir es?
Ich bin heute deutlich optimistischer. Das klingt paradox, aber der Euphorie des letzten Herbstes ist Realismus gewichen. In der Debatte und in der Politik. Mit Realismus kann man fast alles meistern.
Wenn dieses Jahr tatsächlich 1,5 Millionen Menschen zu uns kommen, wie lange kalkuliert wurde, dann schaffen wir es nicht mehr. Ich sehe aber wieder Chancen, dass die Zahlen sinken.
- Boris Palmer, OB aus Tübingen