Die Zahlen sind erschreckend: 70 Prozent der hier lebenden erwachsenen Flüchtlinge wurden Zeugen von Gewalt, über die Hälfte werden selbst Opfer von Gewalttaten. Es sind Schicksale, mit denen Psychotherapeutin Lisa Hübner täglich konfrontiert wird. Die 27-Jährige betreut traumatisierte Einwanderer. Welche Geschichten Flüchtlinge ihr erzählen und wie ihnen ihre Ängste genommen werden können, erklärt Hübner im Interview.
Was ist das Besondere an einer therapeutischen Behandlung von Kriegsflüchtlingen?
Lisa Hübner: Jeder Mensch hat schon einmal traumatische Erfahrungen in seinem Leben gemacht hat, eine Trennung zum Beispiel. Aber die Menschen, die aus einem Kriegsgebiet kommen, sind tagtäglich mit ganz anderen Dingen konfrontiert. Ich arbeite sehr viel mit jungen Menschen, die meisten kommen aus Syrien oder Afghanistan, einige davon sind minderjährig. Sie haben schreckliche Angst erlebt, das wirkt sich auch auf die psychische Entwicklung aus. Wenn man in einem sehr unsicheren Land lebt, wo man sich täglich fragen muss: ‚Überlebe ich das hier? Überlebt meine Familie das?’ Dann entstehen teilweise akute Traumata.
Wie gelingt es Ihnen, dass sich die Flüchtlinge öffnen, obwohl sie schon so viel Leid ertragen mussten und wohl kaum jemandem vertrauen?
Ich setze mich nicht mit denen hin und sage: ‚So, jetzt erzähle mir doch bitte mal, was dir so alles Schlimmes passiert ist?’ Ich bleibe eher bei alltäglichen Dingen. Was haben sie heute gelernt? Was haben sie gemacht? Dann frage ich auch schon mal nach ihrer Familie. Wo sie ist, wie es ihr geht. Da merkt man dann relativ schnell, wer bedürftig ist. Man merkt auch, wer gerne redet und wer eher zurückgezogen ist. In der Therapie sprechen wir auch über Hobbies. Ich betreue einige Flüchtlinge, die sehr gerne malen oder musikalisch orientiert sind. Aber dieser gesamte Prozess braucht Zeit, anders als bei anderen Patienten.
Sprechen Sie die Flüchtlinge selber an oder kommen sie zu Ihnen?
Das ist unterschiedlich. Meistens spreche ich sie aber schon im Camp an. Ich sage auch nicht direkt, dass ich Psychotherapeutin bin, sondern eine Betreuerin oder Kontaktperson. Wenn man zum Beispiel in der Psychiatrie arbeitet, trägt man ja einen weißen Kittel. Das macht vielen Menschen Angst. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass die Flüchtlinge meinen, sie müssten mit mir sprechen. Sondern, dass sie merken: Da gibt es eine Person, die sich für mich interessiert.
Wie äußert sich ein Trauma bei Flüchtlingen?
Manche Menschen sind sehr zurückgezogen. Es gibt aber auch welche, die sehr überangepasst sind. Die um keinen Preis einen Fehler machen wollen. Die ständig darauf achten, sehr freundlich zu sein. Wenn man dann aber etwas Bürokratisches zu besprechen hat, merkt man sofort, dass sie Angst bekommen, dass sie irgendwas angestellt haben, abgeschoben werden könnten. Diese Überangepasstheit erlebe ich oft. Natürlich kommt auch aggressives Verhalten vor.
Gibt es Anzeichen bei Flüchtlingen, die auch auf Missbrauch deuten?
Das erste Mal auf Missbrauch bin ich aufmerksam geworden, als ich einen Kurs gegeben habe über das Schützen und Nein sagen. Wie die Flüchtlinge auf Deutsch sagen können: ‚Lass mich in Ruhe, ich möchte das nicht’. Oder dass sie die Polizei rufen dürfen. Das wissen sie teilweise nicht. Für viele ist die Polizei etwas, dass Angst macht. Die Asylsuchenden sind richtig aufgeblüht in diesem Kurs. Eine Kollegin hat mich dann darauf hingewiesen, dass das im Zusammenhang mit Missbrauch stehen könnte.
Wo sollte das passiert sein?
Auf der Flucht! Sie werden von Schleppern misshandelt, körperlich und sexuell. Dass sich die jungen Männer, teilweise 14 oder 15 Jahre alt, prostituieren. Auch vor den Schleppern, um sich die Flucht zu ermöglichen. Das ist ganz grausam, aber eine Realität mit der wir konfrontiert werden. Am Anfang habe ich mich immer gefragt: Warum kommen so viele junge Männer? Wo sind die jungen Frauen? Dann hieß es: Die würden die Flucht von Syrien oder Afghanistan gar nicht überleben ohne vergewaltigt zu werden. Aber dass es den Männern passiert, klammern wir eigentlich aus. Oft ist es so, dass sie in den Camps Stühle vor ihre Türen stellen, weil sie Angst vor Übergriffen haben.
Wie oft kommt es vor, dass Flüchtlinge das Geschehene nicht verarbeiten können, sondern in die Kriminalität abrutschen?
Es ist grundsätzlich so, dass Alkohol oder Drogen missbraucht werden, um Dinge wegzuspülen. Das ist schon bei den Menschen so, die hier leben. Man kann feststellen, dass härtere Drogen von Menschen konsumiert werden, die härtere Schicksale haben. Wobei man bedenken muss, dass viele Flüchtlinge sehr gläubig sind. Als Moslime sind Alkohol und Drogen eigentlich verboten. Das heißt, die kommen nochmal in einen ganz anderen Gewissenskonflikt, wenn sie das trotzdem nehmen.
Werden hochtraumatisierte Menschen im Asylverfahren bevorzugt?
Nein. Wer entscheidet denn: Der ist traumatisiert und der nicht? Diese Flucht alleine ist schon ein Trauma. Junge Menschen werden von ihren Familien getrennt. Wer von uns kann sich schon vorstellen mit 14 oder 15 so eine Reise zu machen? Das ist nicht so: Ich flieg mal nach Amerika und bin da mal ein Jahr. Ein Flüchtling hat mir erzählt, dass er über mehrere Monate jeden Tag zehn Stunden zu Fuß unterwegs gewesen ist. Von einem Land ins nächste. Das ist ein Kraftakt – nicht nur vom Körperlichen her, auch von der Psyche. Wenn du in ein Land kommst, niemanden verstehst, die Leute aber von dir erwarten, dass du sie verstehst. Auch, dass du dich optisch anpasst, deine traditionelle Kleidung nicht mehr anhast, am besten auch nicht mehr religiös bist. Das allein ist schon traumatisierend für einen jungen Menschen. Früher war es so, dass bei denjenigen, die als selbstmordgefährdet eingestuft wurden, das Asylverfahren erleichtert wurde. Das ist heutzutage aber nicht mehr so. Der Flüchtlingsstrom ist so groß, da nimmt keiner mehr Rücksicht drauf.
Wie bewerten Sie die Asylpolitik der Regierung?
Unter uns Bürgern herrscht die Angst, dass Europa islamisiert wird und die Menschen, die zu uns kommen, aggressiv sind. Ich finde es spannend, dass wir diese Ängste mit unserer Asylpolitik auch noch füttern, indem wir den Flüchtlingen verbieten zu arbeiten, indem wir Systeme entwickeln, womit wir ihnen Steine in den Weg legen. Die Motivation leidet, wenn du erfährst: Das darfst du nicht, das kannst du nicht. Sie verlieren den Rhythmus, wenn sie nicht arbeiten dürfen. Sie schlafen lange, werden gelähmt. Das schürt dann zwangsläufig eine Aggression – auch gegen Deutschland.
Das Interview führten Erik Peters und Jessica Gielen.