Die Bilder von den deutsch-österreichischen Grenzübergängen sind für viele zum Symbol für die Flüchtlingskrise geworden: Nicht abreißende Trecks von Menschen, die nach langer Flucht endlich ihr Ziel erreichen – Deutschland. Mehr als 100 000 Flüchtlinge sind seit dem 13. September, der Wiedereinführung der Grenzkontrollen, über Freilassing eingereist und in Deutschland verteilt worden. Bis zu 1000 Flüchtlinge durchqueren den Ort täglich. Wie verändert solch eine Aufgabe eine Kleinstadt? Ein Interview mit Bürgermeister Josef Flatscher (CSU).
Herr Flatscher, Sie haben im Oktober einen aufgeregten Brandbrief an Angela Merkel geschrieben: Die Situation sei eine „Katastrophe“. Sie fordern, dass Flüchtlinge schneller in den Rest der Bundesrepublik weitertransportiert werden müssen. Was hat Ihr Brief bewirkt?
Josef Flatscher: Er hat Freilassing und mir eine Stimme gegeben, jetzt sind sogar mal persönliche Gespräche mit Frau Merkel oder auch Herrn de Maizière möglich. Man kann nur mit richtig knalligen Formulierungen auf sich aufmerksam machen. Ich bin kein Seehofer, aber ich bin auch kein Bittsteller. Ich frage nicht für mich, sondern für meine Bürger.
Wie sehr können Sie sich denn mit den Sorgen und Ängsten Ihrer Bürger identifizieren?
Ich habe zwei Herzen in der Brust. Allgemein denke ich: Denjenigen, die da sind, muss man helfen, ganz klar. Aber umgekehrt ist die Frage: Wo ist die Grenze erreicht? Da muss ich ganz pragmatisch denken und Politiker sein. Das eine Herz lässt sich nicht mit dem anderen aufwiegen. Selbstverständlich würde ich jedem helfen. Aber mit gesundem Menschenverstand. Wenn es bei mir an der Haustür klingelt, lass ich da jeden rein? Auch die Attentate von Paris sollten allen zu denken geben.
Also noch strengere Kriterien bei der Aufnahme?
Wir können doch zum Beispiel nicht einfach sagen, dass wir jeden Syrer aufnehmen, das kann doch nicht sein. Es gibt auch Plätze, wo Syrien noch relativ gut beieinander ist.
Wären die Transitzonen für Sie eine Möglichkeit gewesen?
Ich habe mich dagegen gewehrt, weil Freilassing dann ziemlich im Fokus gewesen wäre. Das mag jetzt unmenschlich klingen, aber: Für das Image einer Stadt ist das sicher nicht gut. Selbst auf Tagungen, wo es um andere Themen geht, fragen mich alle nur nach den Flüchtlingen: Bei euch nach Freilassing, kann man da noch hin? Kommt man da noch durch?
Aber die Zeit der chaotischen Bilder von der Grenze ist doch vorbei, alles wirkt sehr geordnet. Wo ist das Problem?
Die lokale Wirtschaft hat extrem gelitten. Fast die Hälfte aller Einkäufer in Freilassing kamen aus Österreich – aber durch die Grenzkontrollen stand man oft stundenlang im Stau, deswegen meiden viele den Ort. Geschäftsinhaber müssen Zwangsurlaub einlegen. Mitarbeiter von österreichischen Firmen haben oft in unseren Gaststuben gegessen, dort ist es jetzt leer. Der Verkehr fließt zwar schon länger wieder, aber im Kopf ist eine Grenze drin.
Wie können Sie sich das erklären?
Erst durch die Kontrollen seit September weiß man, wie wertvoll das Grenzenlose eigentlich ist und wie sehr wir uns daran gewöhnt hatten. Die Folgen haben uns kalt erwischt. Und man sieht: Die Krise wird in den Köpfen gemacht.
Trotzdem hat es die Krise im Kopf auch auf die Straßen geschafft: Im Oktober gab es in Freilassing eine Demonstration der AfD sowie eine Gegendemo.
Ja, und die AfD-Gegner baten mich, ein Grußwort zu schreiben. Da hab ich mich geweigert. Nicht jeder, der dort steht, ist gleich ein Nazi. Von den 1000 Demonstranten, die die AfD verzeichnet hat, waren vielleicht 150 von der Partei. Die restlichen waren ganz normale Leute, die sich einfach mal mit ihrer Familie hingestellt haben, die Angst haben vor Überfremdung.
Trotzdem wirken sich solche Aktionen auf die Stimmung einer Gemeinde aus. Haben sich die Reaktionen der Freilassinger im Laufe der Zeit verändert?
Man muss ehrlich sagen: Manche interessiert die Krise überhaupt nicht, die bekommen von all dem nichts mit. Aber es hat mich überrascht, was für einen brutal tollen Helferkreis wir haben. Doch auch da merkt man, dass die Kraft langsam nachlässt. Oder auch bei den 250 Bundespolizisten: Die sind rund um die Uhr im Einsatz, arbeiten 12 Stunden, im Schichtsystem. Viele haben schon oft Hochwasser-Einsätze mitgemacht, sind stresserprobt. Aber das Hochwasser ist weggegangen. Wo ist hier die Perspektive?
Was meinen Sie denn? Gibt es eine?
Ich bin ein hoffnungsloser Optimist. Auch direkt gegenüber von meinem Haus wohnen Asylbewerber. Da kann ich nichts Negatives sagen. Die Kinder können sogar schon ziemlich gut Deutsch, naja, Bayrisch. In ganz Freilassing haben wir 125 Asylbewerber, die sind nicht das Problem, sondern das Durchschleusen. Die wirtschaftlichen Einbußen machen die momentane Stimmung, da sind Existenz-Ängste drin. Der Worst Case wäre, wenn sich die Stadt davon nicht erholen kann.
Was würden Sie auf Angela Merkels „Wir schaffen das“ erwidern?
Man kann sicher nicht leicht definieren, wie viele Menschen man aufnehmen kann. Kann uns die Kanzlerin sagen, wie viele Flüchtlinge ein Land, ein Bundesland, eine Stadt verträgt? Ich meine das nicht finanziell, sondern gesellschaftlich. Auch ich als Bürgermeister will und muss sagen „Wir schaffen das“. Aber man muss auch sagen können, wie man es schafft, mit welchen Mitteln – und bis wann. Wir können nicht unendlich aufnahmebereit sein.
Also „Pro Merkel“ – trotz Brandbrief?
Ich mag sie natürlich weiterhin. Aber ich bin froh, dass ich nicht sie bin.
Das Interview führte Sina Struve.