Im Awo-Refugium Kaiserdamm in Berlin wohnen über hundert Menschen, die meisten von ihnen jüngere Männer. Sie alle hören auf Chefin Gauhar Besmil. Zwei Wochen nach der Kölner Silvesternacht erzählt die 62-jährige Afghanin von ihren Erlebnissen als Heimleiterin.
Der Händedruck ist fest, der Auftritt selbstbewusst. Gauhar Besmil empfängt in ihrem Büro im ersten Stock der Flüchtlingsunterkunft. Die einstige Jugendherberge reiht sich unauffällig ein, hier am Kaiserdamm in Charlottenburg. Neben Apotheke, Biomarkt und Solarium steht das 2013 eröffnete Haus, in dem bis zu 110 Menschen ein Zuhause finden. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) diktiert, mal kommen mehr, mal weniger Flüchtlinge, aber immer finden sie in Gauhar Besmil eine engagierte Betreuerin. Die 62-jährige Afghanin kam vor 43 Jahren nach Deutschland, hat hier studiert und ist geblieben. Früh begann sie mit Flüchtlingen zu arbeiten, zunächst als ehrenamtliche Sprachlehrerin, später als Frauenberaterin. Seit Eröffnung des Hauses ist sie dabei, seit einem Jahr Leiterin.
Seit der Silvesternacht von Köln kommt die Diskussion kaum zur Ruhe. Was geschah bei Ihnen unmittelbar danach?
Gauhar Besmil: Genau am Tag darauf klopften immer wieder Leute an meine Tür. Sie meinten: „Lass uns doch an die Öffentlichkeit treten“. Sie wollten sich wehren. Sie machten mir deutlich, dass sie vor Gewalt geflüchtet seien, ganz egal welcher Art und dass solches Verhalten, wie das in Köln, nicht zu ihren Werten zähle. Sie wollten sofort ein Zeichen setzen.
Und was war Ihr erster Eindruck? Die Dimension des Ganzen erschloss sich ja erst in den Tagen danach.
Ich war skeptisch. Ich finde, Kriminalität kennt keine Nationalität. Deswegen finde ich es schwierig, da zu spekulieren. Ich habe das Leben in Europa auch gewählt, weil hier geltendes Recht durchgesetzt wird. Und auch in diesem Fall verlasse mich auf den Rechtsstaat.
Aber Sie haben doch bestimmt auch an Ihre Bewohner gedacht, wo junge Männer klar in der Überzahl sind.
Ich kann Ihnen versichern, die waren alle richtig eingeschüchtert, noch mehr als sonst schon. Die fragten sich, wie so etwas passieren konnte.
Und was haben Sie ihnen gesagt?
Dasselbe wie Ihnen jetzt. In diesem Haus mögen mehr Männer als Frauen wohnen, aber es arbeiten viele junge Frauen hier, wir haben oft 16-18-jährige Mädchen als Praktikantinnen. Aber noch nie wurde jemand belästigt. Für die Menschen in meinem Haus ist das, was geschehen ist und jetzt läuft, gewissermassen Rufmord. Dabei kann hier keiner etwas dafür.
Jetzt treten alle möglichen Experten vor die Medien und erzählen vom Kulturkampf, vom Frauenbild im Islam, von Fehleinschätzungen in der Integration. Was sagen Sie dazu?
Es ist eine Frage der Kultur, ohne Wenn und Aber. Doch was viele nicht glauben: Diese Offenheit der europäischen Frauen ist ein Wunschbild für viele orientalische Männer und Frauen. Es ist keine Schande, das wird in europäischen Gesellschaften oft falsch interpretiert. Das Denken von Radikalen wird oft gleichgesetzt mit der gemeinen Auffassung in der islamischen Welt.
Also kommt keiner Ihrer Bewohner zu Ihnen und sagt, er käme mit der liberalen Rolle der Frau hier nicht klar?
Nein. Und dazu habe ich eine interessante Beobachtung gemacht. Wenn ich zusammen mit den Kollegen draussen eine Zigarette rauche, erhalte ich manchmal einen etwas direkteren Einblick in die Männerwelt in meinem Haus. Und wenn im Sommer ein aufreizend gekleidetes Mädchen vorbeiläuft, dann sind es eher meine Bewohner aus Südeuropa, die vielleicht einen Spruch klopfen.
Und wenn Sie trotzdem mal feststellen, dass es zu weit geht, vor allem auch verbal, was passiert dann?
Zweimal gab es Fälle, wo ich Besucher von meinen Bewohnern wegschicken musste. Die haben Hausverbot, bis heute.
Und was haben die getan?
Die haben Frauen angemacht, die hier vorbeigelaufen sind. Beschwerden gab es keine, aber ich habe von mir aus gesagt, dass sowas nicht geht.
Das klingt hart.
Es geschah aus einem präventiven Gedanken heraus. Bevor etwas passiert, muss man die richtigen Zeichen setzen. Vielleicht hätte sich dieses an sich harmlose Verhalten weiter entwickelt, und ich wäre vor einem grösseren Problem gestanden.
Eine Frau als Chefin eines Hauses, in dem grösstenteils Männer wohnen. Für einige Ihrer Bewohner ein ungewöhnliches Bild?
Das ist auch ein falscher Eindruck, den manche Europäer von der orientalischen Welt haben. Natürlich werden in meiner Heimat Frauen unterdrückt. Aber das liegt daran, dass in diesen Verhältnissen der gegenseitige Respekt fehlt. Das ist hier ganz anders, und nicht nur mir gegenüber, weil ich alt und grau bin (lacht). Wissen Sie, was ich jeden Morgen mache?
Nein.
Ich gehe durchs ganze Haus, Speisesaal, Aufenthaltsraum, Treppenhaus, durch die Gänge und begrüsse jeden, der mir begegnet, persönlich, mit Händedruck. Bei einigen gibt es da schon mal Unsicherheiten.
Inwiefern?
Einer meinte einmal ganz höflich, aber bestimmt, er dürfe keiner fremden Frau die Hand reichen. Natürlich habe ich das respektiert. Aber weil ich solche Dinge routinemässig, täglich mache, kann ich Vertrauen schaffen.
Jetzt, mit zwei Wochen Abstand: Welche Auswirkungen für Sie und Ihren Betrieb haben die Geschehnisse von Köln?
Für mich keine, für die Bewohner kurzzeitig negative. Ich versuche ihnen zu vermitteln, dass man sich für die Tat eines Kriminellen nicht schuldig fühlen kann, sonst müssten wir ja für jeden Mord in Deutschland ein schlechtes Gewissen haben. Ich habe mit dem Bezirksamt gesprochen, mit dem Kiezbüro, die haben die Bestürzung meiner Bewohner alle zur Kenntnis genommen.
Und was denken Sie persönlich eigentlich darüber, was dort geschehen ist?
Natürlich ist das keine Lappalie, da wurden Frauen möglicherweise vergewaltigt. Aber um die Aufklärung müssen sich die Behörden kümmern. Ich bin auch zuversichtlich, dass das gut kommt. Ich für meinen Teil kann nur sagen, dass ich als Leiterin einer Einrichtung mit hundert Flüchtlingen nicht erst seit zwei Wochen darüber nachdenke, wie diese Situation auf eine grosse Mehrheit von jungen, alleinstehenden Männern wirkt.
Das Interview führte Moritz Marthaler.