23. August 2016, 16:10 h

Ein Jahr auf 18 Seiten

Das Magazin der Süddeutschen Zeitung hat vor einem Jahr seine eigene Langzeit-Recherche zur Flüchtlingskrise gestartet. Die schließlich veröffentlichte Geschichte heißt "Schaffen wir das?"

Das SZ-Magazin hat sich zwölf Monate lang im bayerischen Schongau umgesehen: Wie gehen die Menschen in einem nahezu beliebigen Ort mit der Flüchtlingskrise um und was lässt sich daraus für die gesamte Republik ableiten? Ein Gespräch mit Rainer Stadler, einem der beiden Redakteure der Mitte August veröffentlichten Geschichte, die denselben Titel trägt wie unser Projekt: „Schaffen wir das?“

Herr Stadler, in Bayern gibt es über 2000 Gemeinden. Warum haben Sie sich gerade Schongau für Ihre Langzeitbetrachtung ausgesucht?

Das hatte praktische Gründe. Schongau hat etwa 12.000 Einwohner und ist damit noch verhältnismäßig übersichtlich. Das Thema ist an sich schon Komplex genug, deswegen haben wir nach einem Ort gesucht, der relativ einfach zu erfassen ist. Wir hätten auch eines jener kleinen Dörfer auswählen können, in das mit einem Schlag mehrere hundert Flüchtlinge gebracht wurden. Oder wir hätten in München bleiben können, aber da geht es immer gleich um tausende Menschen und trotz der vielen Flüchtlinge in der Stadt, berührt das Thema nicht den Alltag aller Einwohner. Schongau hat außerdem den Vorteil, dass es nur eine Autostunde von unserer Redaktion entfernt ist.

In Ihrem Artikel schreiben Sie, dass Sie sich den Ort ein Jahr lang angesehen haben. Wie oft mussten Sie nach Schongau fahren, um diesem Versprechen tatsächlich gerecht zu werden?

Für die Geschichte mussten wir etwa 30 Mal hinfahren. Das ist öfter, als wir es uns gewünscht hätten und schon ein ordentlicher Haufen Arbeit. Uns ging es ja darum, die Normalität in der Krise deutlich zu machen. Das herauszuschälen war äußerst mühsam. Für Außenstehende ist der Ort praktisch unverändert. In München ist die Flüchtlingskrise dagegen offensichtlicher. Wir können jetzt mit gutem Gewissen sagen, dass wir ein Jahr lang recherchiert haben.

Wenn Sie die Arbeit in Tagen aufrechnen könnten, wie lange haben Sie und Ihr Kollege Roland Schulz insgesamt an dem Artikel gearbeitet?

Für das Schreiben haben wir bestimmt zwei Wochen gebraucht. Wenn man die Recherchen zusammenrechnet, waren das circa sieben Wochen pro Redakteur. Das ist auch für uns Luxus. Unsere Leser erwarten so etwas aber. Das Thema ist wichtig und wird uns auch die nächsten Jahre beschäftigen. Man bekommt für derartige Recherchen zwar keine großen Liebesbekundungen und wenn man nach der klickorientierten Logik des Internet vorgeht, macht so eine Geschichte auch wenig Sinn, aber ich finde, das wir als Journalisten da in der Pflicht sind.

Gab es eigentlich mal Momente, an denen Sie sich unsicher waren, vielleicht sogar aufgeben wollten?

In der Redaktion haben wir uns das ganze erste halbe Jahr vorbehalten, das Thema kurzfristig abzubrechen. Der Zugang zu den Menschen in Schongau war sehr schwierig. Wir wurden extrem schlecht über Termine im Ort informiert, was auch daran lag, dass die Helfer viele Dinge für nicht so wichtig gehalten haben. Anders als bei Ihrem Projekt hat bei uns auch niemand angerufen und gesagt: „Hier brennt übrigens gerade die Flüchtlingsunterkunft. Ich schicke Euch in zehn Minuten ein Video vom Feuerwehreinsatz.“ Dazu kommt, dass wir uns immer wieder gefragt haben, ob ein Jahr überhaupt reicht. Die Ausgangsfrage ist auch jetzt noch nicht zu beantworten. Man schafft es, den Menschen Essen und ein Dach über dem Kopf zu geben. Aber Integration?

Wann war für Sie der Zeitpunkt an dem Sie wussten, dass Sie weitermachen?

Im Februar haben wir gesehen, dass wir einige Dinge beobachten können, an denen man die Entwicklung in der Bundesrepublik spiegeln kann. Interessant fand ich aber auch die Unterschiede zwischen der großen Politik und dem Pragmatismus vor Ort, beispielsweise beim Thema Obergrenze. Während die Politik monatelang gestritten hat, ob sie nötig ist oder moralisch verwerflich, war in Schongau schnell klar, dass es natürlich eine Obergrenze gibt, was die Aufnahmefähigkeit der Stadt angeht. Ich hätte gerne noch mehr rausgefunden, über die Integration auf dem Arbeitsmarkt etwa. Aber in unserem Fall hat es allein schon sechs Monate gedauert, bis wir uns erstmals in den Asylausschuss des Landrates setzen durften.

Die Veröffentlichung Ihres Artikels fällt in die Zeit der Attacken von Würzburg und Ansbach. Wie haben derartige Entwicklungen Ihr Projekt beeinflusst?

Die Anschläge haben nochmal gezeigt, wie schnell die Stimmung kippen kann. Zwischen dem Druck und der Auslieferung liegen bei unserem Magazin immer acht Tage. München war ganz frisch, Ansbach war ganz frisch und Würzburg war auch noch nicht lange her. Wir wussten nicht, ob in der Woche noch etwas passieren wird und wir vielleicht in eine Stimmung hineinpublizieren, in der das Thema in der Form unpassend gewesen wäre. Das ist ja das verrückte an dem Thema. Es ist überhaupt nicht vorhersehbar oder gar abschließend zu beantworten.

Zum Ende noch eine ganz andere Frage: Was denken Sie über unser 365-Tage-Projekt „Schaffen wir das?“

Mir gefällt der Fleckenteppich in den Geschichten auf Ihrer Homepage, das passt zu der offenen Ausgangsfrage. Anfangs haben wir auch gedacht, wir machen eine Art Collage. Aber dann haben wir die Geschichte doch ganz klassisch erzählt. Ich finde „Schaffen wir das?“ grundsätzlich gut. Als Journalistenschüler haben Sie vielleicht etwas mehr Zeit und Freiheit in der Gestaltung. So ein Projekt zeigt auch, was Journalisten alles aus einem Thema rausholen können. Die Kollegen, die bereits richtig im Tagesgeschäft drinstecken, haben fast keine Chance, so etwas zu realisieren.

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