23. Januar 2016, 5:00 h

„Die Geberländer leisten ihre Zahlungen nicht“

Rudi Löffelsend ist seit über 35 Jahren in der Auslandshilfe aktiv. Im Interview kritisiert der 65-Jährige die Kurzsichtigkeit der Politik, nennt aber auch Beispiele für gelungene Flüchtlingsarbeit.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Beispielhaft in der Flüchtlingskrise: Rudi Löffelsend arbeitet häufig mit ungewöhnlichen Mitteln. Über einen Mann, der Salafisten mit Kruzifixen vertreibt.

Rudi Löffelsend hat klare Regeln für die Möbelausgabe festgelegt, doch aus irgendeinem Grund sind die Schilder mit der Hausordnung durcheinander geraten. „Muss wohl ein Araber aufgehängt haben“, murmelt der 65-Jährige, während er nach dem Lichtschalter sucht. Dann rückt er näher an den mehrsprachigen Buchstabensalat heran und stellt fest: „Die Zettel sind alle verdreht.“ Die Ausdrucke bleiben so, wie sie sind. Löffelsend hält sich nie mit Kleinigkeiten auf. Hauptsache, der Laden läuft „und das macht er erstaunlich gut“, wie der eigentlich pensioniere Sozialpädagoge sagt.

Dass alles mehr oder weniger reibungslos funktioniert, liegt nicht zuletzt an den syrischen Christen, die bereits vor Jahren ein neues Zuhause in Essen gefunden haben. Rund 300 Mitglieder zählt die syrisch-katholische Exilgemeinde. Erst hat Löffelsend ihnen geholfen, jetzt helfen ihm einige im Möbellager. „Das führt zu der spannenden Situation, dass die christlichen Syrer den muslimischen Syrern die Küchenschränke tragen“, berichtet der Chefkoordinator an der Elisenstraße. „Sie machen das nicht immer mit riesiger Begeisterung, aber sie machen es.“

Dann klingelt das Telefon. Durch die unscheinbare Lagerhalle schallt die Internationale. Es geht um den defekten Möbeltransporter. Ja, er ist repariert und kann abgeholt werden. Ein Bekannter hat Löffelsend unbürokratisch ausgeholfen. Mal wieder. Vor dem Fenster stehen ein paar Männer, die Löffelsend derweil kräftig zuwinken. Der rundliche Mann im roten Pullover winkt freundlich zurück. „Die gehen gleich zum Deutschunterricht“, erklärt Löffelsend, nachdem er aufgelegt hat.

Mehr als 35 Jahre lang hat Löffelsend die Auslandshilfe der Caritas im Bistum Essen geleitet. Als in Polen 1981 das Kriegsrecht verhängt wurde, schleuste der Kirchenmann den Präsidenten der Caritas Internationalis in einem Lkw über die Grenze. Löffelsend organisierte Hilfslieferungen für Erdbebenopfer in Süditalien, engagierte sich im zerstörten Bosnien, sammelte Spenden für rumänische Waisenkinder und das von einem Tsunami heimgesuchte Sri Lanka. Im Ruhrgebiet ist er deshalb kein Unbekannter mehr. Von seinen Kontakten zum „katholischen Klüngel“, wie er ihn nennt, lebt sein Verein, die Caritas Flüchtlingshilfe Essen.

Vor gut einem Jahr hat er sich ein kleines Büro im Erdgeschoss eines früheren Gemeindehauses eingerichtet. Von hier aus bittet Löffelsend Firmen, Verbände und Kommunen um Geld für das Möbellager, das geplante Begegnungszentrum, den Sprachunterricht und seine Herzensangelegenheit: ein Flüchtlingsdorf im Nordirak. 400 Menschen haben durch das Projekt bereits ein Dach über dem Kopf.

Löffelsend ist ein Mann im Unruhestand. Aber in letzter Zeit hat er besonders viel gearbeitet. Und er hat mit vielen Flüchtlingen gesprochen. „Ich muss jetzt ein bisschen mehr auf mich aufpassen“, sagt er, während er sich eine Zigarette anzündet. „Wenn man anfängt, von den Kriegserlebnissen der Flüchtlinge zu träumen, dann ist das ein Alarmzeichen.“ Ein paar Sachen will das Caritas-Urgestein aber heute trotzdem noch auf den Weg bringen. Das Möbellager soll aufgefüllt werden. „Hübsch angeordnet“ müssten die Sachen vor allem sein. So wie in einem kleinen Kaufhaus. Ein Bett, einen Tisch und einen Stuhl bekämen Flüchtlinge vom Amt gestellt, erklärt Löffelsend. „Bei uns gibt es aber auch die ganzen Dinge, die eine Wohnung erst gemütlich machen.“ In den Regalen lagern Tassen, Gardinen, Bettwäsche, Bilderrahmen und allerlei Nippes.

Als Löffelsend das Möbellager ins Leben gerufen hat, wurde er zunächst belächelt. „Es gibt doch wichtigere Dinge als Leselampen und Eierbecher“, bekam der Verein damals oft zu hören. Doch Löffelsend kennt die Befindlichkeiten der Wohlfahrtsverbände nur zu gut. Sein Verein will deshalb eines vermeiden: Den hauptamtlichen Helfern die Arbeit streitig machen. Deshalb habe man sich ein paar „weiße Flecken“ gesucht. Im Möbellager können die Asylsuchenden zweimal in der Woche für kleines Geld einkaufen. 50 Cent kostet ein Badehandtuch laut Liste, am Ende wechselt es für durchschnittlich zehn Cent den Besitzer. „Die wollen ja alle handeln“, lacht Löffelsend. Für die zuständige Helferin sei das zunächst sehr gewöhnungsbedürftig gewesen. Inzwischen hätte man sich aber daran gewöhnt.

Entwarnung gibt er auch beim Thema Salafisten. „Wir hatten die hier mal kurz im Haus“, berichtet Löffelsend. „Ich habe dann beim Bistum angerufen und gesagt: Bringt mir sofort Kreuze.“ Seit jenem Tag hängen in allen Räumen Kruzifixe, so als würde man Knoblauch aufhängen, um sich damit vor Vampiren zu schützen. „Es klingt vielleicht bescheuert, aber es funktioniert wirklich“, sagt der unorthodoxe Salafisten-Vertreiber.

Schon in jungen Jahren war Löffelsend Experte für Symbolik und Emotionen. Als er Hilfslieferungen nach Polen organisierte, entschied er sich bewusst für acht kleine Laster, statt zwei oder drei große zu nehmen. „Das macht auf Fotos mehr her“, erzählte Löffelsend vor ein paar Jahren der Lokalpresse. Löffelsend hat auch dafür gesorgt, dass die Wohncontainer im Irak alle nach Städten aus dem Ruhrgebiet benannt werden und so eine stärkere Bindung zu den Kommunen im Revier haben.

Gleichzeitig warnt Essens bekanntester Flüchtlingshelfer vor zu viel christlichem Eifer. „Man muss nicht in jedem Eichhörnchen das liebe Jesuskind sehen“, betont Löffelsend. Der Grundsatz der Caritas sei es, Menschen in Not zu helfen, unabhängig von ihrer Hautfarbe oder Weltanschauung. „Wir verleugnen ja nicht, dass wir ein katholischer Verein sind“, so der Vereinsvorstand. „Aber was wir auf keinen Fall wollen, ist zu missionieren, wie das einige radikal-protestantische Freikirchen mit großem Erfolg tun.“

Situation im Flüchtlingsdorf (Stand 23. Januar 2016): 70 Container sind fertig eingerichtet, etwa 400 Flüchtlinge haben dadurch ein Dach über dem Kopf. Hübsche Idee: Die Container tragen Namen von Städten aus dem Ruhrgebiet (gut zu sehen auf Bild IV). Das Dorf trägt daher auch den Namen „Ruhrgebiet“. In der Bäckerei arbeiten momentan fünf Personen. Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) hat angekündigt, eine Schule und eine Krankenstation zu bauen. Die Caritas-Flüchtlingshilfe hat Essener Schulen als Paten gewinnen können, um die Einrichtung der Klassenräume und die Ausstattung der Kinder mit Schulmaterialien zu finanzieren. Die Einrichtung der Krankenstation wird aus Spendenmitteln bezahlt. Nach Möglichkeit werden sich Mediziner aus der Ruhr-Region über den Essener Verein vor Ort engagieren. Außerdem planen Rudi Löffelsend und seine Mitstreiter eine Ladenlokal-Straße sowie Anschub-Hilfen für die Handwerker unter den Flüchtlingen.

Bildergalerie über das „Flüchtlingsdorf Ruhrgebiet“ im Nordirak:

Das Interview führte Felix Rentzsch

Fotoquelle: 

Caritas Flüchtlingshilfe Essen (Bild I, II, IV)
Christian Schwarz (Bild III, V)

19. Januar 2016, 4:22 h

„Für die Flüchtlinge ist das Rufmord“

„Kriminelle Taten kennen keine Nationalität", sagt Gauhar Besmil. Die 62-jährige Afghanin sinniert nach der Silvesternacht von Köln über ihre Arbeit als Leiterin eines Flüchtlingshauses.

10. Januar 2016, 11:42 h

„Syrer sollten sich genau überlegen, welche Alternative sie haben“

Im Oktober wurde Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) von der Bundeskanzlerin zum Koordinator für die Flüchtlingskrise ernannt. Im Interview erklärte er uns, wie er die Situation wahrnimmt.

4. Januar 2016, 4:30 h

„Ich bin froh, dass ich nicht Merkel bin“

Schon seit Monaten kommen täglich mehr als 1000 Flüchtlinge über die deutsch-österreichische Grenze nach Freilassing. Wie verändert das einen Ort? Ein Interview mit Bürgermeister Josef Flatscher.

4. Januar 2016, 4:26 h

„Hier wird auf Kosten der Menschen improvisiert“

Sind die Flüchtlingsunterkünfte auf den Winter vorbereitet? Kommunen und Flüchtlingsräte haben dazu ganz unterschiedliche Meinungen.