23. August 2016, 16:10 h

Ein Jahr auf 18 Seiten

Das Magazin der Süddeutschen Zeitung hat vor einem Jahr seine eigene Langzeit-Recherche zur Flüchtlingskrise gestartet. Die schließlich veröffentlichte Geschichte heißt "Schaffen wir das?"

15. August 2016, 16:05 h

„Das Töten ist eher eine Nebensache“

Im Gespräch mit „Schaffen wir das?“ erklärt der Konfliktforscher Ulrich Wagner, warum Angst eine Waffe ist und wie man sich vor seinen eigenen Gefühlen schützen kann.

Ulrich Wagner ist Professor für Sozialpsychologie an der Philipps-Universität Marburg. Der habilitierte Diplom-Psychologe forscht auf dem Gebiet Erklärung, Reduktion und Prävantion von Konflikten zwischen Gruppen. Seine Spezialgebiete sind Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung und Gewalt.

Die Welt: Herr Professor Wagner, was ist das Ziel von Terroristen im Jahr 2016?

Ulrich Wagner: Terror wird dadurch definiert, dass eine fremde Gruppe ohne Vorwarnung attackiert wird. Das Töten von sogenannten Ungläubigen ist für die islamistischen Terroristen aber eher eine Nebensache. Das eigentliche Ziel ist es, feindliche Gesellschaften zu destabilisieren. Deshalb ist es auch so wichtig, nicht überzogen zu reagieren. Denn genau das wollen die Terroristen.

Ein Regionalzug nach Würzburg, ein kleines Festival in Mittelfranken. Das sind nicht Orte, an denen man mit Terror rechnet.

Tatsächlich scheint es gleich mehrere strategische Wenden gegeben zu haben. Die RAF hat Vertreter des Establishments getötet und dabei versucht, Leute aus dem Volk zu schonen. Jetzt ist es anders. Die neuen Terroristen kennen ihre Opfer nicht. Sie töten auch nicht unbedingt an spektakulären Orten, wo sie von möglichst vielen Kameras gefilmt werden können. Die Terrormiliz Islamischer Staat hat vielmehr dazu aufgerufen, dort anzugreifen, wo man es nicht erwartet. Dadurch wird Terror noch unkontrollierbarer und er schürt mehr Angst. Wenn ich mich vor einem Anschlag fürchte, kann ich beispielsweise das Münchner Oktoberfest meiden. Aber wenn so etwas im Regionalzug passiert, so wie neulich bei Würzburg, dann kann ich das nicht verhindern.

Wir von „Schaffen wir das? haben kürzlich eine Umfrage unter unseren Lesern gestartet, mit dem Ergebnis, dass rund 40 Prozent angeben, sich in ihrer persönlichen Freiheit einzuschränken – aus Angst vor Gewalt.

Ich will das gar nicht verharmlosen, aber man muss sich die Frage stellen, ob die gefühlte Angst dem Sachverhalt angemessen ist. Die Antwort lautet nein. Setzt man die Zahl der jüngsten Opfer ins Verhältnis zur Zahl der Todesopfer im Straßenverkehr, dann ist die reale Bedrohung durch den Straßenverkehr viel größer als durch Terror. Dennoch reagieren die Menschen, wie sie nun einmal reagieren. Früher hatten die Menschen Angst vor Hexen. Heute wissen wir, dass es gar keine Hexen gibt. Wir reagieren auf etwas, das wir selbst nicht kennen oder zum Glück nicht miterleben mussten. Die Medien haben also großen Einfluss auf die Art und Weise, wie wir  Terror wahrnehmen. Ein Negativbeispiel war die ARD während des Amoklaufs in München. Spekulieren und Gerüchte aufgreifen. So sollte man es nicht machen.

Welche Gefahren erwachsen aus diesen Ängsten?

Wir generalisieren Ängste, was bedeutet, dass wir nicht mehr nur Angst vor dem einen konkreten Terroristen haben, sondern beispielsweise alle Flüchtlinge unter Terrorverdacht stellen. Das ist ein Reflex, den wir auch in anderen Situationen an uns selbst beobachten können: Wenn wir von einem Hund angeknurrt werden, so kann das dazu führen, dass wir künftig vor allen Hunden Angst haben, ohne dass sie uns etwas getan haben.

Was kann man dagegen tun?

Erstens sollte man sich im klaren sein, dass die Angst gerade mit einem durchgeht. Diese Angst kann dazu führen, dass ich mich zurückziehe, was Diskriminierungen nach sich ziehen kann. Ich setze mich im Bus vielleicht nicht mehr neben bestimmte Leute oder habe das Bedürfnis die Straßenseite zu wechseln. Wenn die Angst mich zu überwältigen beginnt, ist es wichtig, sich professionelle Hilfe zu holen, um den eigenen Verhaltensspielraum wieder zu öffnen. Zweitens besteht die Möglichkeit, sich der  Situation auszusetzen, oder zu exponieren, wie wir das nennen. Man sollte in die Situation hineingehen, also mit Hunden spielen oder eben auf die jungen Männer zugehen, die im letzten Jahr nach Deutschland gekommen sind. Das bedeutet nicht, dass man gleich Freundschaft schließen muss. Aber man wird merken, dass in aller Regel keine Gefahr besteht.

Glauben Sie wirklich, dass jemand aufsteht, sich neben ein Flüchtlingsheim stellt und dort das Gespräch sucht?

Warum nicht? Es ist eine gute Möglichkeit, mich und meine Angst in den Griff zu bekommen. Die Bereitschaft dazu hängt natürlich auch von meiner Voreinstellung ab. Ich glaube nicht, dass das eine intellektuelle Aufforderung ist, es hat aber sehr wohl damit zu tun, welche Voreinstellungen ein Mensch hat.

In einem früheren Interview haben Sie Politiker für ihre „Schnellschüsse“ kritisiert. Was fordern Sie stattdessen?

Wir müssen vom Aktionismus Abstand nehmen. Was wir gerade wieder erleben, sind schnell ausgesprochene Forderungen nach mehr Repressionen. Auch in Frankreich. Doch das wird den Terrorismus nicht eindämmen. Die Täter sind sehr häufig völlig unauffällige Leute. Die Anschlagsziele sind es ebenfalls. Was wir brauchen, ist mehr primäre Prävention. Das heißt, wir müssen Integrationsangebote schaffen. Die Täter von Köln waren fast alle Männer, die keine Anerkennung hatten und gleichzeitig nicht abgeschoben wurden. Ich will die Täter nicht in Schutz nehmen, aber fest steht auch, dass sie nicht richtig angekommen sind. Das führt zu persönlichen Krisen und zu Identitätssuche. Solche Leute sind auch viel empfänglicher für religiöse Einflussnahme durch den IS, weil ihnen da Nähe und Sinn vorgegaukelt werden.

Glauben Sie an die Aussage von Frau Merkel – „Wir schaffen das“?

Es gibt keine Alternative. Es werden auch künftig Menschen nach Deutschland kommen. Europa ist nicht abzuriegeln und es bleibt nichts anderes, als sich mit dieser Tatsache auseinanderzusetzen. Selbst wenn man die Ursachen der Flucht  bekämpft, wird es einen Nachlauf an Flüchtlingen geben. Und deshalb geht es jetzt darum, wie man das schafft und wie man das Zusammenleben effektiv gestaltet. Und übrigens: Gibt es nicht für Deutschland und Europa Chancen durch diese Menschen?

Interview: Felix Rentzsch

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