Von Christina Wenig
„Ich fand Pharmazie hier im Land eigentlich immer etwas überflüssig, denn wir haben alles, uns geht es super gut“, sagt Dorothee Giese, während ihre Augen über ein Regal mit Medikamenten wandern. „Ich wollte hingegen im Ausland arbeiten, weil ich das viel notwendiger fand.“
Normalerweise ist Giese als Mitglied des Vereins „Apotheker ohne Grenzen Deutschland“ ehrenamtlich in Entwicklungsländern und Krisengebieten unterwegs. Sri Lanka, Haiti, Kenia. Anfang des Jahres war sie noch in Nepal, um pharmazeutische Nothilfe zu leisten und das Gesundheitssystem vor Ort zu verbessern. „Aber jetzt sind die Probleme hier“, sagt sie. Nebenbei sortiert sie neu eingetroffene Arzneimittel in die Regale der improvisierten Apotheke in der Erstaufnahmestelle Berlin-Wilmersdorf ein.
Dass ihr Heimatland jemals so auf die Hilfe von Freiwilligen angewiesen sein würde, damit hätte die Apothekerin nie gerechnet. Seit August verbringt sie einmal pro Woche ihren freien Nachmittag in der Wilmersdorfer Notunterkunft und kümmert sich um den dortigen Bestand der Medikamente. „Im Prinzip ist das hier wie eine Feldapotheke, die wir bei Einsätzen im Ausland auch haben“, erklärt Giese. „Die Situation ist ähnlich: Da sind Leute unterversorgt und in einer Notsituation. Sie haben nichts, und müssen medizinisch versorgt werden.“
Eigentlich müssen nicht-registrierte Flüchtlinge in Deutschland ihre medizinische Versorgung selbst bezahlen. Der Registrierungsprozess dauert oft Wochen bis Monate. Wer sich in dieser Zeit keine medizinische Behandlung leisten kann, etwa die mittlerweile tausend Bewohner der Notunterkunft in Wilmersdorf, wird von ehrenamtlichen Ärzten und Helfern versorgt. Bei ernsten Verletzungen, Krankheiten oder etwa Geburten gibt es zwar eine Notbehandlung im Krankenhaus, doch müssen die Patienten oft ohne wichtige Nachbehandlungen wieder entlassen werden. „Wenn es uns dann nicht gäbe, beziehungsweise die Spender, dann sähe es für einige nicht so gut aus“, sagt Dorothee Giese.
Mit den Patienten selbst hat die Apothekerin keinen Kontakt. Die behandelnden ehrenamtlichen Ärzte holen sich die nötigen Mittel zur Behandlung ihrer Patienten auf eigene Verantwortung aus dem Arzneilager. Am häufigsten müssen sie bei Neuankömmlingen Erschöpfungssymptome, Erkältungen, Dehydrierung und Unterernährung behandeln.
Alle Medikamente in der Ambulanz wurden entweder von Spendengeldern in den Apotheken gekauft oder von Ärzten, Unternehmen bzw. Apothekern direkt gespendet, selbst die zahlreichen Regale an den Wänden sind ausschließlich Spenden. „Private Medikamentenspenden sind problematisch. Wenn jemand die Sachen mal auf der Heizung stehen hatte, sind sie vielleicht nicht mehr wirksam“, erklärt die Apothekerin. „Schlimmer noch, sie könnten theoretisch auch manipuliert werden. Dieses Risiko können wir nicht auf uns nehmen, zumal eine einwandfreie Herkunft gesetzlich vorgeschrieben ist.“
Der Grundbedarf der wichtigsten Medikamente – Antibiotika, Arznei gegen Allergien und Erkältungen – ist dank einer Bedarfsliste mit 70 Wirkstoffen der „Apotheker ohne Grenzen“ immer gedeckt. „Manchmal wird viel überflüssiges Zeug gespendet und dann müssen wir die wesentlichen Sachen doch nachkaufen“, sagt Dorothee Giese. Auch die Ärzte brächten aus ihren Praxen viele Arzneimuster mit, die letztendlich nicht gebraucht werden können. „Wir fänden es viel besser, es würde einfach Geld gespendet werden. Dann könnten wir gezielt das kaufen, was hier gebraucht wird.“
In neun Notunterkünften ist der Verein derzeit allein in Berlin aktiv, Tendenz steigend. Finanzierungspläne seitens der Landespolitik gibt es momentan nicht. „Die Stadt kann finanziell und personell nicht von uns erwarten, dass wir das alles privat schultern“, sagt Giese verärgert. „Das macht auf Dauer ziemlich unzufrieden.“
Vorerst ist kein Ende des Einsatzes von „Apotheker ohne Grenzen Deutschland“ in den Erstaufnahmestellen in Sicht. Zwar soll Anfang 2016 die Gesundheitskarte für Flüchtlinge in Berlin eingeführt werden, doch nicht-registrierte Asylbewerber werden weiterhin keinen Anspruch auf eine medizinische Grundversorgung haben. Bis jetzt wird noch genügend gespendet, um das Engagement der „Apotheker ohne Grenzen“ finanzieren zu können. Um die Zukunft macht Dorothee Giese sich dennoch Sorgen: Bei all den Katastrophen auf der Welt befürchtet sie, dass in der Bevölkerung eine Spenden-Müdigkeit einsetzen könnte. „Am Anfang ist man euphorisch und hilft, aber dann gibt es eben wieder andere Themen, und all das hier gerät in Vergessenheit.“