Anya Lean hatte auf die Macht der Bilder gehofft: Wenn die Politik sieht, wie ernst die Lage am Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) ist, wird sie schon etwas unternehmen. Soweit die Theorie. Am Ende musste die Rechtsanwältin für Migrationsrecht jedoch einsehen, dass auch mit Transparenten und Lautsprechern kein Umdenken zu erzwingen ist.
Redaktion: Frau Lean, Sie haben zusammen mit fünf weiteren Anwälten zahlreiche Flüchtlinge in einem Wohnwagen in Rechtsfragen beraten. Wie kam es zu der Aktion?
Anya Lean: Eine Richterin am Sozialgericht hatte einem Freund gesagt, dass sie sich fragt, warum nicht mehr Geflüchtete einen Eilantrag stellen. Er erzählte mir davon und wir dachten uns: „Hey, vielleicht ist das eine Möglichkeit, um Einfluss auf die Verwaltung zu nehmen.“ Ein paar Kollegen und ich wollten auf die Probleme am Lageso aufmerksam machen. Für mich war es wichtig, vor Ort zu sein und zu sehen, wir groß das Bedürfnis nach Information ist. Das kommt alles ungefiltert und in so einer Masse auf einen zu. Das ist ja eine ganz andere Situation als im Büro.
Wie kann man sich diese Situation denn vorstellen?
Wir haben im Innenraum eine kleine Beratungssituation aufgebaut: Auf der einen Seite die Rechtsanwälte, auf der anderen Seite die Ratsuchenden. Das war unglaublich eng und improvisiert. Nach der Woche war ich richtig kaputt. Und in der Kanzlei ist viel liegen geblieben.
Ich vermute mal, dass Sie nicht Arabisch sprechen. Wie haben Sie sich mit den Flüchtlingen verständigt?
Wir hatten zum Glück tolle Dolmetscher für Dari und Arabisch. Einige Geflüchtete konnten ja auch Englisch. Wenn eine andere Sprache gebraucht wurde, hat sich immer jemand gefunden. Wir haben den Leuten gesagt: „Ihr müsst jemanden finden, der für Euch übersetzen kann.“ Die Geflüchteten waren da sehr solidarisch und haben den anderen geholfen. Manchmal hat sich auch jemand gefunden, der gleich für eine ganze Gruppe gesprochen hat, in der alle in etwa das gleiche Problem hatten.
Was ist Ihr Fazit nach all den Gesprächen?
Die meisten Geflüchteten kennen ihre Rechte nicht. Seltsamerweise passiert es oft, dass Familien bei ihrer Ankunft in Deutschland getrennt werden. In einem Fall wurde eine schwangere Frau mit Kleinkind nach Berlin geschickt, der Vater blieb in Schwerin. Niemand wusste, warum. Wir haben der Frau dann gesagt: „Das ist nicht richtig, dagegen kannst du etwas unternehmen.“ Grundsätzlich ging es bei den meisten Fragen aber häufig um die lange Wartezeit. Was kann ich tun, wenn ich noch nicht einmal registriert bin und jede Nacht vor dem Lageso schlafe? Was kann ich tun, wenn ich von Gewalt betroffen bin – vor allem in den Unterkünften?
Konnten Sie in diesen Fällen sofort helfen?
Wir haben solche dringenden Fälle dann an andere Anwälte verwiesen. Ich kann so etwas ja auch nicht immer sofort machen – selbst im ganz normalen Büroalltag nicht. Wir haben auch darauf verwiesen, dass die Geflüchteten zumindest theoretisch selbst einen Antrag am Sozialgericht einreichen können. Alles in allem haben wir am Tag etwa 40 bis 50 Menschen beraten können. Mehr ging nicht.
Das klingt so, als wären Sie mit dem Ergebnis nicht so ganz zufrieden.
Es gab viel positives Feedback für unsere Aktion. Letztendlich haben wir unser Ziel aber nicht erreicht. Wir hatten gehofft, eine so große Masse an Geflüchteten beraten zu können, dass jeder Einzelne wahrgenommen wird. Wir wollten damit einen Druck aufbauen, der die Politik zum Handeln bewegt. Hinterher haben wir gemerkt, dass wir wohl zu optimistisch waren.
Was glauben Sie, woran es gelegen hat?
Jedes Verfahren ist anders, das gilt auch für die Eilverfahren. Es reicht nicht, fünf oder zehn Minuten mit jemandem zu sprechen. Der Ablauf ist in der Regel so: Ich rede mit dem Mandanten und mache eine eidesstattliche Versicherung mit ihm. Er muss also versichern, dass er die Wahrheit sagt. Dann schreibe ich einen Antrag und muss daraufhin Fragen des Gerichts beantworten. Ich als Berufsanfängerin brauche pro Mandant mindestens sechs Stunden. Manchmal geht’s auch schneller. Trotzdem sieht man an dieser kleinen Aufzählung, wie arbeitsintensiv eine Beratung ist. In vielen Fällen braucht es ja auch noch einen Dolmetscher.
Ganz umsonst waren Ihre Mühen aber nicht. Welche Lehren ziehen Sie und Ihre Kollegen für die Zukunft?
Als wir die Aktion beendet hatten, haben wir uns gesagt: Eigentlich braucht es eine tägliche Rechtsberatung vor Ort, natürlich mit anderen Räumlichkeiten. Eine unserer Forderungen an die Stadt war deshalb auch, dass uns so etwas zur Verfügung gestellt wird. Für die Menschen am Lageso wäre das sehr sinnvoll. Wenn ich ihnen gesagt habe: „Kommt doch in mein Büro“, dann haben sie geantwortet: „Wie soll ich dahin kommen? Ich kenne den Weg nicht und ich habe noch nicht mal ein Ticket.“
Das heißt, Sie arbeiten vorerst weiter in Ihrer Kanzlei?
Ja. Ich stelle immer noch Eilanträge und eigentlich gewinne ich die auch immer. Aber es geht nicht mehr so schnell wie früher. Zuletzt habe ich mehrere Wochen auf einen Eilbeschluss warten müssen. Dabei geht es ja um dringende Sachen wie die Übernahme von Kosten, Unterbringung und das Taschengeld.
Was muss Ihrer Meinung nach auf institutioneller Seite passieren?
Es muss mehr Personal eingestellt werden und die Verwaltung muss dezentral organisiert werden, damit nicht alle ewig lange vor dem Lageso warten. Auch bei der Unterbringung müssen bessere Lösungen gefunden werden. Ich habe Mandanten, die am ehemaligen Flughafen Tempelhof schlafen und mir von den katastrophalen Zuständen vor Ort berichten. Unter anderem gibt es nicht genug Duschen für alle, weshalb die Geflüchteten mit Bussen zum Schwimmbad gefahren werden müssen.
Auch die Politik fordert mehr Personal für die Behörden. Die Frage ist nur, woher die ganzen Fachkräfte auf einmal kommen sollen.
Meine Mitarbeiterin hat mir berichtet, dass eine Bekannte sich beim Lageso beworben hat. Ein halbes Jahr lang hat sie nichts gehört, dann kam ein Brief, in dem stand: Wir haben Ihre Bewerbung erhalten und werden das jetzt an die entsprechende Stelle weiterleiten.
Das Interview führte Felix Rentzsch
Fotoquelle:
Felix Rentzsch (Bild I)
Anya Lean (Bild II und III)